An manchen Tagen regnet es. Das ist nichts Besonderes, aber an diesen Tagen bin ich am liebsten bei Greta.
Ich mag es, wenn die dicken Tropfen an den Fensterscheiben runterrinnen. Ihre Fensterscheiben sind nämlich dicker als andere und die Fenster sind sehr alt. Manchmal suche ich mir dann zwei Regentropfen aus und mache ein Rennen mit ihnen. Jeder bekommt einen Namen und gewonnen hat der, der zuerst unten ist. So ein Rennen kann ziemlich lange dauern, und oft geschieht es, dass ich - während ich ganz vertieft bin - furchtbar erschrecke. Denn lange kann man nie in Ruhe irgendetwas tun, wenn Greta in der Gegend ist - und schließlich ist es ja ihre Wohnung.

Zum Beispiel kann es vorkommen, dass sie wieder nicht aufpaßt wo sie hinsteigt und der Katze auf den Schwanz tritt oder noch häufiger singt sie ohne Vorwarnung los. Das kann sie sehr gut und vor allem sehr laut. Denn in jungen Jahren, wie sie sagt, war sie einmal Operettensängerin. Jetzt singt sie nur noch so zum Spaß, und ihre Stimme wackelt weit mehr als früher. Ich glaube, sehr berühmt war sie nie, aber ich habe in ihrem Schubladkasten schon einmal zusammengefaltete Plakate gesehen, die ich mir heimlich angeschaut habe.
In Gretas Wohnung findet man nämlich in jedem Kasten und in jeder Kommode interessante Dinge. Obwohl ich weiß, dass sie es mir sicher erlauben würde herumzuschnüffeln, möchte ich sie doch lieber nicht fragen und schaue mir alles an, wenn sie gerade etwas anderes zu tun hat. Als ich das oberste Plakat aufgefaltet habe, ist mir als erstes ein fettgedruckter Name von einer Operette ins Auge gestochen. Da stand: "My fair lady" auf blassgrünem Hintergrund. Mit den ersten drei Namen, die da standen, konnte ich nicht sehr viel anfangen, erst als viertes stand da - etwas kleiner: Greta Ferency. Ich finde, als Operettensängerin kann man gar keinen besseren Namen haben.
Ich selbst möchte nicht so heißen. Aber ich bin mir sicher, dass kein Mensch so heisst, nicht einmal Greta selber. Einmal habe ich nämlich einen Briefumschlag auf ihrem Schreibtisch gesehen, auf dem ein ganz anderer Name stand, und ich weiß ganz sicher, dass der Brief nicht verwechselt worden sein kann, denn er war von einem Amt und eingeschrieben. Mit Computerschrift stand da: Sg. Fr. Margarete Ferstl.
Das ist auch nicht schlecht, aber wahrscheinlich nur für Leute, die nichts mit Kunst zu tun haben. Aber ich kenne mich mit Kunst nicht besonders gut aus.

Gretas ganze Wohnung sieht sehr künstlerisch aus. Eigentlich ist es ja ein Haus. Jedes Zimmer hat mindestens zwei große Fenster, einige gehen auf die Straße hinaus, die anderen zum Garten hin. Trotz der vielen Fenster ist es meistens recht düster in den Räumen. Das liegt daran, dass die Fenster nur ein Mal alle zwei Jahre geputzt werden, und zwar im Juni, kurz bevor Gretas Papa auf Besuch kommt.
Greta ist streng erzogen worden und hat einen Heidenrespekt vor ihrem Vater. Bei seinem letzten Besuch habe ich ihn kennengelernt. Ich habe gleich verstanden warum sie schon Wochen bevor er auftaucht zu putzen beginnt. Er sieht wirklich sehr streng aus, außerdem lacht er nie und wenn er geht, benützt er einen Stock, mit dem er bei jedem Schritt laut auf den Boden klopft. Mir würde das ja auf die Nerven gehen, aber schließlich ist er ihr Vater. Wobei - manchmal denke ich, Greta muss adoptiert worden sein oder im Krankenhaus vertauscht, so unterschiedlich sind die Beiden.

Andererseits gibt es ein Foto von ihrem Vater als er ein junger Mann war, und da sehen sie sich doch ein bisschen ähnlich. Und sie haben auch denselben künstlerischen Geschmack. Wenn er kommt, dann ist mindestens eine große Reisetasche vollgepackt mit alten Schallplatten, die er ich weiß nicht wo erstanden hat, manchmal reicht der Platz in der Tasche gar nicht aus.
Letztes Mal hat er ihr einen Hocker aus Afrika mitgebracht, der mindestens zwanzig Zentimeter einsinkt, wenn man sich draufsetzt. Die ganze Bibliothek ist voll mit solchen Sachen. ÑGreterl, ich hab´ da ein ganz besonderes Gustostückerl aufgetriebenì, sagt er dann, und Gretas Augen glänzen wie eine Christbaumkugel. Viele Sachen landen auf dem Dachboden, aber sie räumt ihre Wohnung immer wieder um und tauscht die diversen Geschenke aus, damit jedes Stück gleichberechtigt ist und in ihrer Wohnung stehen darf.
Irgendwie bin ich eifersüchtig auf Gretas Papa. Er weiß immer genau was ihr gefällt und wie er sie behandeln muss, damit sie tut was er will. Wenn er einen Ausflug auf die Rax machen will, dann tut er so, als würde er sich erstens um ihre Gesundheit sorgen und sich zweitens um das Vater-Tochter -Verhältnis Gedanken machen. In Wirklichkeit ist es ihm einfach nur zu fad allein dort oben herumzuspazieren.
Oder wenn er will, dass sie ihm Schwammerlgulasch mit Serviettenknödel kocht, dann schwärmt er von der Zeit wie seine Frau beziehungsweise ihre Mutter noch gelebt hat, und sie soo ein köstliches Schwammerlgulasch gekocht hat, das Beste auf der ganzen Welt. Und überhaupt war das eine so schöne Zeit damals, weil die kleine Greta = Margarete so ein liebes Mäderl war und alle eine furchtbar glückliche Familie. Was ich von Greta gehört habe, klingt aber nicht immer nach glücklicher Familie, und deshalb denke ich, dass er einfach nur zu faul ist, um sich sein Schwammerlgulasch selber zu kochen.

Wie dem auch sei, ich benehme mich entsetzlich dumm, wenn er da ist. Ich weiß, dass Greta sehr viel von ihm hält, und weil ich Greta einen Gefallen tun möchte, möchte ich, dass er mich wiederum sympathisch findet. Zum Beispiel kaufe ich mir Zeitungen, die ich in der Bibliothek lese, zumindest tue ich so als ob. Wir sitzen uns dann gegenüber und ich hoffe, er hält mich für besonders intelligent, obwohl ich nur den Teil lese, wo kurze Artikel über Siebenlinge oder dergleichen stehen. Lange kann ich mich sowieso nicht konzentrieren, denn die bloße Vorstellung, er könnte mich fragen, was ich  von der letzten Umweltkonferenz halte, macht mich schon ganz nervös. Hie und da räuspert er sich, während er liest oder er murmelt ein paar Worte vor sich hin. Länger als eine halbe Stunde halte ich es gar nicht aus, stillzusitzen. Er hingegen kann einen ganzen Vormittag an einer Zeitung klebenbleiben.

Ich möchte natürlich nicht gleich wieder aufstehen, das würde dumm aussehen. Also lasse ich meine Gedanken schweifen.

Mist, schon halb vorbei. Immer dasselbe. Der Bus wartet nicht, die Schule eventuell schon, die war noch jedesmal da, wenn ich zu spät gekommen bin.

Wie war das? Morgens früh um sechs kommt die kleine Hex. Morgens früh um sieben kocht sie gelbe Rüben, morgens früh um acht - darf sie sich einen Kaffee machen, weil sie schon in Pension ist. Unserereins muss Bussen nachrennen und vorwurfsvolle Gesichter am Schultor ertragen, wo Frau Professor Brenner mit ausgestrecktem Arm und Finger auf der Uhr wie eine lebensgroße Madame-Tussaud-Figur neben den Stufen verharrt. Aber soweit bringt sie´s nicht, ins Tussaud-Kabinett, meine ich. Höchstens in den Ferien.

Mit der Schule halte ich mich nicht lange auf und gehe gleich über zu den Sachen, die mich wirklich interessieren. Letztes Jahr habe ich eine Käfersammlung angelegt. Meine sollte größer werden als die im Naturhistorischen Museum. Aber nach einigen Wochen streikte mein Onkel, denn der musste die Käfer aufspießen - ich könnte so etwas nie und nimmer fertigbringen. Er meinte, wenn ich zu feig sei, um die Käfer umzubringen, bräuchte ich auch keine Sammlung. Schließlich sei er nicht mein privater Käferpräparator, was immer das auch ist.
Im Jahr davor wollte ich nach einem Konzert, in das Mama mich eingeladen hat, unbedingt Oboe spielen lernen. Der Klang war so schön, dass mir bei jedem Solo ein Schauer über den Rücken gelaufen ist. Genauso wie die Oboe klingt, so stelle ich mir Russland oder Ungarn vor oder irgendein Land, in dem es ganz flach ist. Sehr weitläufig und traurig. Als ich nach ein paar Wochen nörgeln und penzen endlich  meine eigene Leihoboe bekam, klang das auch sehr traurig. Schrecklich traurig und die Betonung liegt auf schrecklich, sagte Mama.
Normalerweise ist sie sehr streng, wenn ich wieder einmal etwas nach kurzer Zeit abbreche, das ich vorher unbedingt haben oder lernen wollte. Den Schach- und den Judokurs musste ich bis zu den Semesterferien besuchen, obwohl ich schon nach zwei Wochen wieder aufhören wollte. Steppen freute mich ein bisschen länger, aber ich war einfach nicht gut, und da macht es keinen Spaß. Dieses Mal war es anders. Mama schien meine Gedanken zu erraten, und noch bevor ich das leidige Thema anschneiden konnte, überlegte sie laut, ob ich nicht doch lieber ein anderes Instrument lernen sollte. Sie hätte nachgedacht und wäre zum Schluss gekommen, dass ich nicht der Typ sei für so ein melancholisches Instrument. Zu mir würde eher Akkordeon oder Triangel passen.
Triangel! Das sind diese Metalldreiecke, denen man genau einen Ton entlocken kann. Wenn Triangel das passende Instrument für mich ist, dann muss ich unheimlich langweilig sein. Akkordeon ist mir zu schwer, auch zum Halten. Momentan habe ich genug vom Musizieren. Aber irgendwann möchte ich gern Reiten lernen.

Während ich so am Überlegen bin, was ich mit meinem Leben anfangen könnte, höre ich Greta in der Küche. Sie kann sehr gut kochen und braucht auch nie ein Kochbuch. Wenn sie eines zu Hilfe nimmt, ist sie so durcheinander, dass ihr alles anbrennt oder komisch schmeckt. Eine ihrer Spezialitäten ist Hühnerpastete. Dazu macht sie eine Preiselbeersauce mit so viel Cognac, dass man von den Preiselbeeren nicht mehr viel schmeckt. Manchmal ist sie besonders gut aufgelegt, dann singt sie beim Kochen und nimmt hie und da einen Schluck aus der Flasche.

Greta kocht nicht nur gern, sie isst auch gern und ist deswegen ständig auf Diät. Trotzdem nimmt sie nie ab, denn sie trickst sich immer selbst aus. Ende November kauft sie zum Beispiel Adventkalender für Freunde und Bekannte. Sie gibt sich wirklich Mühe beim Aussuchen, für ihren alten Gesangslehrer sucht sie immer Kalender mit singenden Engeln aus. Mir wäre einer mit Wolken und schneebedeckten Hütten zugedacht gewesen, wo auch Schokolade drin ist. Irgendwann bevor sie ihn mir schenkt, überfällt sie aber der Heißhunger und sie isst die ganze Schokolade, von Fenster eins bis Fenster vierundzwanzig, auf. Das tut sie heuer schon zum vierten Mal, und ich werde wohl jeden Advent um meinen Schokoladekalender umfallen.

Nichts Ekligeres als das Schulgulasch: Fettbrockenknorpelfleisch mit Teigmehlmaden. Xandi hat vorgesorgt, zu blöd, dass ich gestern nicht auf den Wochenspeiseplan geschaut habe. Sie isst ein Speckweckerl, wir viel Suppe und Topfenschnitten soviel wir kriegen können. Heute gehe ich schon um zwei, das ist gut, denn da kann ich einen Umweg über den Feinkost-Meyer machen.

Von Diäten und im Besonderen von Waagen hält sie sowieso nicht viel. Greta meint, man müsse sich nicht noch zusätzlich unter Stress setzen in Zeiten wie diesen. Ich denke, grundsätzlich hat sie recht damit, und Männern gefallen will sie ohnehin nicht. Sagt sie. Ob es stimmt, weiß ich nicht, bei ihr im Bett oder im Schlafmantel habe ich noch keinen gesehen.
Irgendwie bin ich froh darüber, denn zum einen möchte ich Greta nicht mit jemandem teilen, zum anderen kann ich es mir gar nicht vorstellen, dass jemand mit ihr zusammenlebt. Sie ist nämlich ziemlich anstrengend und hat ihre Eigenheiten. Einige hat sie immer schon gehabt - dass sie in der Früh einen Tee nach Geheimrezept kocht und dann laut gurgelnd durch die Wohnung geht, andere hat sie sich wohl erst im Lauf der Zeit angewöhnt.

Ein neuer Tick ist, eine Tasse mit Kräutern und Blüten, die ein Mal die Woche erneuert werden, vor das Bild von Maria Callas zu stellen. Ein Bild von Ihr hängt gleich daneben. Sie sagt, durch die Blüten könnte ein Teil von der Energie und Stimme auf sie übergehen. So etwas ist ganz typisch für Greta. Sie liest irgendetwas, zum Beispiel über Bachblüten, Baumhoroskope oder indianische Medizin, das vermischt sie dann mit irgendwelchen anderen Dingen, die sie gelesen oder gehört hat und heraus kommt eine Macke. Sie glaubt wahrscheinlich nicht wirklich daran, aber was nicht schadet könnte ja nützen. Mir wäre das viel zu umständlich.

Meistens beziehen sich ihre Eigenarten auf das Singen. Ich habe das Gefühl, dass sie gerne länger auf der Bühne gestanden wäre. Sie kann gar nicht aufhören vom Theater zu schwärmen, wenn sie einmal damit angefangen hat. Dass sie nicht so berühmt war, stört sie, glaube ich, nicht sehr. Hauptsache sie kann das tun, was sie am liebsten tut, und das ist nun einmal Singen - am besten, vor möglichst vielen Leuten. Wenn ich vor einem Publikum singen müsste, könnte ich keinen einzigen Ton rausbringen, schon gar nicht, wenn Greta im Publikum sitzen würde. Nicht, weil ich so falsch singe, sondern weil es mir so peinlich wäre. Es sieht wahnsinnig blöd aus, wenn Sänger den Mund so weit aufreißen und das Gesicht dabei verziehen. Hin und wieder singt Greta mir einige Lieder vor, in denen es um Liebe oder die Natur geht. Nach einigen Minuten fällt mir der weitaufgerissene Mund gar nicht mehr auf.

Die Sonne scheint gerade noch. Als ich meine Eiaufstrichsemmel bezahlt habe, war sie noch da. Jetzt, wo ihr Schicksal in den Magen gemündet ist, nicht mehr. Wolken wohin man blickt, und sogar geradeaus - da steht Milena aus der Parallelklasse, und ich weiß, dass ich sie und ihr Geplapper bis vor die Haustür ertragen muss. Hilft nix, da muss man durch. Ich werde an meine grandiose Zukunft als irgendwas denken und zwischendurch mhm machen. Hat sie noch nie bemerkt.

Man kann sich wirklich vorstellen in Italien über Hügel zu spazieren, während einem die Sonne auf den Rücken scheint oder hinter einem Busch zu sitzen und den Liebsten zu beobachten und das Herz klopft vor Aufregung wie verrückt. Ich kenne keinen, bei dem mein Herz so klopfen könnte, aber wenn Greta davon singt, kann ich es mir zumindest vorstellen. So singen zu können ist ein ganz besonderes Talent. Man muss nämlich zugleich auch ein bisschen Schauspieler und Zauberer sein. Ich wünsche mir auch etwas so gut zu können.
Greta meint, ich könnte gut zeichnen und malen. Ein Bild von einem Teich mit einer Wasserlilie hat sie sogar in ihrem Badezimmer aufgehängt. Es stimmt schon, dass ich gern male. Und ich male auch sehr oft. Der Haken ist nur, dass viele Bilder deshalb so schön aussehen, weil sie zufällig so geworden sind. Wenn ich ein Aquarell mit Hügeln malen möchte, wird ein braun-beiges Bild daraus, das zwar recht hübsch ist, aber kein Mensch weiß, was es darstellen soll.

Ich habe selbst einige Bilder in meinem Zimmer hängen, aber es ist doch so: Auch Picasso hat toll malen können, selbst wenn einige von seinen Bildern sehr abstrakt sind. Wenn er eine nackte Frau zeichnen wollte, die auf einem Sofa liegt und sinnend in die Ferne blickt, dann hat er das getan. Und bei mir würde ein fleischfarbener Fleck, der auf einem blauen oder einem grünen Fleck liegt, herauskommen. Das ist der Unterschied.

Wenn ich ehrlich bin, gibt es auch nichts, was ich so gern tue, dass ich nur das und nichts anderes tun möchte. Darum beneide ich Greta unendlich. Meine Mama sagt, wenn man etwas unbedingt will, erreicht man es auch. Damit hat sie natürlich recht. Das Problem ist nur, dass ich nicht genau weiß was ich will, also kann ich auch nichts erreichen. Es gibt so viele Dinge, die ich schon begonnen habe und je mehr ich anfange, desto trübsinniger werde ich, denn es war wieder nicht das Richtige.

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